Stonie: Sind Abtreibung und Genforschung moralisch vertretbar?

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Hallo crazycons,

hui, da hast du dir aber was vorgenommen.

Herrn Singers Bogen von der Abtreibung zum Verzehr von Fleisch kann ich wirklich nicht nachvollziehen. Wenn der Mann den Unterschied zwischen einer Abtreibung und einem Stück Fleisch auf dem Teller nicht sieht, tut er mir wirklich sehr leid. Nichtsdestoweniger ist die Frage an sich bedenkenswert, denn hier gilt es, eine Menge Dinge in Betracht zu ziehen, die Herr Singer bedauerlicherweise ausser acht lässt:

1.) Die "Leibesfrucht" an sich und die Mutter

Er hat recht, wenn er sagt, dass ein Embryo vermutlich noch nicht sensibel ist. Das heisst, in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft wächst das Kind hauptsächlich und bildet die ersten Organe und die Gliedmassen aus. Nichtsdestoweniger lebt es - sonst wüchse es nicht. Die Mutter merkt das durchaus, weil sich ihr Körper verändert und sie entwickelt ein Verhältnis zu dem kleinen Wesen, das da in ihr ist. Meistens ist es ein gutes Verhältnis, sie freut sich, ein Kind zu bekommen, sie freut sich, dass ihr Körper tatsächlich so funktioniert, wie vorgesehen und sie staunt über das kleine Wunder, das durch sie möglich wird.

Ungefähr ab dem 4. Monat der Schwangerschaft ist der Embryo ein Fötus. Allein der Wechsel der Bezeichnung zeigt an, dass wir es hier rein wissenschaftlich mit einem Wandel des Wesens zu tun haben. Das Kind bewegt sich jetzt mehr, nuckelt am Daumen, macht schon ein paar Tröpfchen Pipi und entwickelt sich von Tag zu Tag mehr in Richtung eines Wesens mit Bewusstsein. Spätestens hier können wir zwar nicht von Intelligenz an sich aber von der Fähigkeit, zu fühlen und zu leben sprechen. Die Mutter weiss das normalerweise dann, wenn sie merkt, wie ihr Kind im Bauch erschrickt, wenn eine Tür zugeschlagen wird oder wenn sie den Bauch streichelt und das Kind sich unter ihrer Hand wohlig dreht. Die Mutter nimmt Wohlbefinden oder Unwohlsein des heranwachsenden Kindes in ihrem Bauch also wahr - und in der Folge dürfen wir gern davon ausgehen, dass das Kind durchaus in der Lage ist, solches zu verspüren.

2.) Soziale Konflikte

Eine schwangere Frau lebt immer in irgendeinem sozialen Kontext. Der Normalfall ist, dass die Menschen, die um sie herum sind, sich mit ihr freuen. Dies führt normalerweise nicht zu Konfliktsituationen. Anders ist es, wenn die Mutter Angst haben muss, dass das Kind sie in eine unerträgliche Situation bringt (da hat Antje einige Punkte angesprochen). Was eine schwangere Frau in solchen Fällen braucht, ist Hilfe, Unterstützung und guter Rat, denn es gibt nur wenige Fälle, in denen die Entscheidung für eine Abtreibung "mal so eben" getroffen wird. Nichtsdestoweniger ist es die Frau, die die Entscheidung treffen muss - und diese Entscheidung ist beileibe schwer.

Du siehst also, Herr Singer greift einfach zu kurz, wenn er den Embryo oder den Fötus losgelöst von seiner Mutter betrachtet, denn sie ist definitiv ein vernunftbegabtes Tier und unter Umständen diejenige, die ihr Leben lang mit Einschränkungen fertigwerden muss - und zwar sowohl dann, wenn sie abtreibt als auch dann, wenn sie's nicht tut, von daher nützt es nichts, wenn Herr Singer den Frauen einredet, sie würden ein gefühlloses Stückchen Fleisch, einer Zyste gleich, aus ihrem Körper entfernen lassen. Denn es ist nicht so.

Was es jetzt zu diskutieren gilt, ist der moralische Aspekt der Abtreibung unter Einbeziehung der Mutter, damit wir dahinterkommen, ob die Gesellschaft überhaupt ein Recht hat, in einem solchen Fall einzugreifen - ob in Form einer moralischen Instanz (z. B. Kirche) oder in Form einer gesetzgebenden Instanz.

Also bewegt uns hauptsächlich die Frage: In welchen Fällen ist eine Schwangerschaft überhaupt ablehnenswert und welche Bedeutung hat das für die schwangere Frau, ihre Familie und ihre nähere soziale Umgebung?

Da gibt es zunächst den "üblichen" Fall: Nicht aufgepasst. Da kann man der Frau natürlich die Frage stellen, warum das so ist - schliesslich leben wir in einer Gesellschaft, in der bereits im sehr jungen Alter darüber aufgeklärt wird, wie eine Schwangerschaft entsteht und wie der Körper funktioniert und auch sehr junge Mädchen wissen bereits, wie sie eine Schwangerschaft verhindern können. Allerdings ist das müssig und die Frage kann man sich in dem Moment sparen, in dem Tatsachen vorhanden sind. Wenn die Frau grundsätzlich gesund und kräftig genug ist, eine Schwangerschaft und die Geburt durchzustehen, dann könnte sie eigentlich die Kosequenzen ihres Handens tragen. Dachte ich jedenfalls früher. Inzwischen habe ich ein bisschen mehr Lebenserfahrung und auch ein bisschen mehr Mitleid. Wenn also so eine Situation eintritt, sollte man zunächst Klarheit darüber erlangen, ob die Frau das Kind haben möchte oder nicht. Wenn sie sagt, sie wollte es nicht, sollte man herauszufinden versuchen, ob das in der Tat ihre Entscheidung ist oder ob sie sich, wie es heutzutage immer noch der Fall ist, dem sozialen Druck von aussen beugt. Wieviele Väter in spe haben schon der Frau, der sie im Moment der Zeugung ihre Liebe geschworen haben, kalt lächelnd erklärt, sie könnten ja wohl nicht wissen, ob das Kind tatsächlich von ihnen ist oder ihr gesagt, sie solle "es loswerden", damit die Zukunft der "Väter" gesichert bleibe; wieviele Eltern haben schon einer jungen Frau die bittersten Vorwürfe gemacht, die dunkelsten Zukunftsvisionen gemalt und jegliche Hilfe für den Fall des Austragens schon im Vorhinein verweigert? Und wie oft geschieht das bis auf den heutigen Tag? Andererseits wird der Frau oft genug erklärt, sie mache sich moralisch eines Mordes schuldig, wenn sie dieses kleine Leben, das ihre Zukunft und die des Mannes, der zweifellos an der Entstehung beteiligt war, zerstört oder doch in völlig unvorhergesehene Bahnen lenkt und obendrein ihren Ruf zunichte macht, aus ihrem Leben verbannt und tut, als sei nichts gewesen. Vor diesem Hintergrund, der heute immer noch existiert, ist eine freie Entscheidung für oder gegen ein Kind wohl kaum möglich. Also denke ich, dass man, bevor man überhaupt über ein Recht, der Schwangeren das Austragen eines Kindes zu befehlen oder zu verbieten oder ihr auch nur zu dem einen oder anderen zu raten, diskutieren muss, wie man der Mutter, die sie nach der Schwangerschaft sein wird, ihr Leben weiterhin lebenswert und gut machen kann.

Und das heisst, dass viele noch immer vorhandene soziale Denkstrukturen aufgebrochen werden müssen. Es ist einfach schizophren, wenn einerseits das Leben an sich mit solcher Vehemenz verteidigt wird und andererseits das Leben eines oder mehrerer bereits existierender und durchaus denkender Menschen bei dieser Verteidigung so geringe Beachtung findet. Wer sich also moralinsauer hinstellt und sagt, dass eine Schwangerschaft gefälligst zur Geburt eines Kindes zu führen hat, der wird nicht umhinkönnen, die Verurteilung der Schwangeren als "unbeherrschte Frau" und ihren sozialen Abstieg durch Einschränkungen im Berufs- wie auch im Privatleben zu verhindern. Das kann man aber nur erreichen, wenn die Gesellschaft im engeren und weiteren Sinne ein Kind freudig begrüsst und nicht als Last empfindet. Will heissen: Kinder müssten dann willkommener sein als sie es heutzutage sind und Mütter weit selbstverständlicher Mitglied der Gesellschaft sein, als sie es bisher sind.

Ich selbst bin generell dagegen, ein ungewolltes Kind abzutreiben - weil es in der Seele der Frau in den allermeisten Fällen durchaus Schaden anrichtet und weil sie ihr Leben lang daran zu tragen hat. Das  Bewusstsein, dass man ein Kind hätte haben können, das aber nicht zur Welt kommen durfte, weil es nicht opportun war, hinterlässt in sehr vielen Frauen ein Schuldgefühl dem Kind gegenüber, das sie in ihren eigenen Augen über lange Zeit abwertet. Und selbst wenn sie später noch einmal ein Kind bekommt, wird es nie das Kind sein, das sie damals hätte haben können. Leichtfertig sollte man also mit dem Thema Abtreibung meiner Ansicht nach nicht umgehen - es hängt zuviel emotionales Schadenspotential daran, als dass man einen Embryo oder einen Fötus als simples Fetzchen überflüssiges Fleisch betrachten könnte, auch wenn das für gewisse Menschen ein sehr praktischer Standpunkt ist.

Dagegen geht mir jedesmal der Hut hoch, wenn gewisse männliche Rockträger sich hinstellen und eine Moral predigen, die so ganz einfach nicht haltbar ist, Männer im strahlenden Glanz des zeugungsfähigen Zuchtstiers stehen lässt und Frauen in den Abgrund der Morallosigkeit und Verwerflichkeit stürzen, wo sie zusehen können, wie sie das Ergebnis der Zeugungsfähigkeit besagten Zuchtstiers am Leben erhalten oder wie sie's möglichst unauffällig loswerden. So geht's nun auch wieder nicht.

Fazit: Bevor überhaupt über die moralische Bewertung einer Abtreibung gesprochen werden kann, müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, die eine freie, wirklich freie Entscheidung der Frau für oder gegen ein Kind möglich machen. Ich sehe da bisher noch keine grossen Fortschritte, Paragraph 218a StGB hin oder her.

Es gibt noch weitere Fälle, in denen eine viel, viel eingehendere Diskussion des Themas erfolgen müsste: Behinderung des Kindes, zum Beispiel oder Schwangerschaft durch Vergewaltigung. Das würde meiner Ansicht nach hier aber doch zu weit führen - ich habe sowieso den Verdacht, dass mal wieder kaum jemand bis hierher liest. ;o)

File Griese,

Stonie