Hi Jan,
Ich behaupte, dass zumindest in den nördlichen Gebieten (für die südlichen vermute ich es auch) die Wissenschaft und Realitätsnähe doch eine größere Rolle spielt als jedewede Religion.
Für die meisten Menschen spielen für ihre täglichen Lebensentscheidung religiöse Prinzipien kaum noch eine Rolle, das denke ich auch. Die Frage nach dem Tod, nach der Liebe und nach dem Glück beantworten weder "Wissenschaft und Realitätsnähe" noch die Prinzipien unserer Gesellschaft. Die Frage ist also, in welche Formen der Phantasie oder Irrationalität sich ein Nordeuropäer flüchtet, wenn die wirtschaftlich bestimmte Rationalität der Gesellschaft nicht mehr hilft, wenn die Karriere geknickt, der Partner von dannen oder eine Krankheit bedrohlich wird.
Natürlich, es irritiert uns schon, dass mitten in unserer Gesellschaft Menschen leben, die an ein höheres Wesen glauben, das alles weiß, alles regelt und erfasst und versteht, und es gleichzeitig für wichtig hält, dass man dem weiblichen Teil der Menschheit eine Art von Regenmänteln anzieht, wenn die Sonne scheint, dass der Anblick des bloßen Haupthaars unserer Frauen direkt in sexuelle Verstrickungen führe und dass die Ehre der Familie wichtiger als das eigene Leben sei. Diese Normen erscheinen einigen verblüffenderweise derart plausibel, dass man dafür bereit ist, beliebige andere Menschen zu ermorden und sich selbst mit Sprengsdtoff in die Luft zu jagen.
Die Frage bleibt allerdings, ob der Westen ohne solche Verpeilungen auskommt. Sicher unsere Damen laufen schon schicker herum, zeigen Bein und tragen die Haare offen, ohne dass deshalb alle gleich aufhucken oder Sprengstoff zünden, auch wird die Abnutzung und Gesundheitsschädigung durch sexuelle Freuden sicherlich von den Gläubigen stark überschätzt.
Andererseits gibt es auch bei uns allerlei lustige Glaubenssätze, etwa dass Familie Bush die diversen Irak-Krieg für Freiheit und Demokratie geführt habe, dass es für den Erhalt von Arbeitsplätzen dringend erforderlich sei, länger zu arbeiten und den Kündigungsschutz aufzuheben, dass es für die kleinen Leute von Vorteil sei, weniger zu verdienen und dafür mehr zu arbeiten, dass ein Leistungsträger wie ein Vorstandsmitglied oder ein Fußballspieler dringend 7 Millionen verdient habe, dass das aber geheim zu halten sei, dass die FDP sexy sei, dass man unbedingt bestimmte Güter kaufen müsse, um glücklich zu sein, Ebay und second hand, carport und Super-RTL, sind das nicht auch verhaltene Formen des Wahns?
Als Vorteil kann man hauptsächlich ins Feld führen, dass der soziale Gott ein milderes Zepter führt als der religiöse, dass einem nichts abgehackt wird, wenn man die aktuelle Mode nicht mitmacht oder sich an den falschen Stellen nicht rasiert bzw. eben doch, dass man auch ohne UMTS-Foto-Handy, Kreditkarte und BMW zwar der sozialen Verachtung anheimfällt, ansonsten aber weiter durchs Leben tigern kann, dass man sogar über die Gläubigen aus Ost und West lachen darf, sagen darf, dass der Kaiser nackt ist, man kann sich ein Arschgeweih tätowieren lassen, man muss nicht die Ehre der Schwester verteidigen, indem man sie terrorisiert, man muss für sie keinen Ehemann suchen, das kann sie selbst oder lässt es, ist mir doch egal.
Du solltest bedenken, dass Religion in Deutschland überwiegend nur noch eine traditionelle und keine religiöse Erscheinung mehr ist. Auch sind inzwischen fast 40 % der Bundesbürger Mitglied keiner Religionsgemeinschaft mehr. Tendenz nach wie vor steigend.
Fast tröstlich, der Papst ein Popstar wie Gottschalk oder die Queen, der Kirchentag eine Art von Happening, der Bischof von Münster unterhält trefflich mit verschrobenen Morgenpredigten auf der Fahrt zur Arbeit, eine vergnüglich Welt, wenn nur der einzelne wieder etwas mehr zählen würde, und wenn Menschen wie Angela Merkel nicht dauernd den Ernst der Lage bepredigen, um die kleinen Leute zu neuen Opfern anzuspornen.
Ich stelle mir da eine Fernsehrunde vor, unter Leitung der jetzt so vergnatzten und verklemmten Sabine Christiansen, in der unsere führenden Politiker und Wirtschaftsschwätzer plötzlich eine WENDE vollzögen, plötzlich fiele es wie Schuppen von den Augen und es eröffnete sich ein Blick auf das Alltagsleben der Normalbürger, ihre Sorgen, Hoffnungen und Träume, und man würde laut darüber nachdenken, wie man es erreichen könne, dass diese Menschen wirklich ein bisschen lustiger und sicherer leben könnten.
Ich glaube, Deutschland ist schon recht aufgeklärt (für Süddeutschland leg ich meine Hand da aber nicht ins Feuer).
Ich befürchte, dass auch in Süddeutschland heftig herumscharwenzelt, geliebt, gedöst und im Schatten der Kirch geküsst wird, oder?
Viele Grüße
Mathias Bigge