Moin,
Hmm, heißt das jetzt: Kritik ist OK, aber man muß sich trotzdem danach richten, denn Validität muß ja sein?
Oder heißt das: Kritik ist OK, und man muß sich in den Kritikpunkten nicht nach dem W3C richten?
Ich glaube nicht, dass es da die einfache Ja/Nein-Antwort gibt.
Das System (des Entstehens) der Recommendations ist einen fein ausgeklügeltes System zwischen akzeptierten Standard und gewolltem Fortschritt einerseits und Einfangen von Fehlentwicklungen und Fördern von Innovationen anderseits; alles zugleich auf allen möglichen Ebenen der Technik, der Usability, der Weiterentwicklung des Webs, des Rechts und der finanziellen Interessen aller Teilnehmer, garniert mit den persönlichen Vorlieben und Animositäten. Ich hatte mal vor Jahren (zusammen mit Björn Höhrmann) die große Freude, auf einer Tagung des W3C ausführlicher mit Bert Bos darüber zu sprechen - "wir hörten ihm fast dem ganzen Abend zu" wäre eine bessere Beschreibung unserer Tätigkeit in diesem Gespräch :-) - und habe danach meine Meinung über die Heiligkeit der Recommendations revidiert. Ich war bis dahin überzeugter Anhänger des niederkanzelns jeglicher Nichtvalidität, weil ich glaubte, dass jede Fehlentwicklung die Universalität des Webs gefährden würde. Ich hätte also gut in dciwam gepasst. Mittlerweile weiß ich um die praktische Unmöglichkeit, immer valide zu arbeiten und habe kein schlechtes Gewissen beim (bewusst und nach Abwägung der Argumente begangenen) kontrollierten Verstoß gegen Regeln. Nicht der Verstoß an sich ist böse, es kommt auch auf das Motiv an.
In gewisser Hinsicht und mit ein paar Abstrichen kann man die Validitätsdiskussionen auch mit Diskussionen über Rechtschreibreformen vergleichen. Ich erkenne immer wieder ähnliche Argumentationsmuster.
Ich möchte deine Frage aber lieber mit einem Bild jenseits der Rechtschreibreform beantworten:
Stell Dir vor, Du stehst an einem sonnigen Morgen um fünf Uhr in der Früh hellwach und vor jeglichem Berufsverkehr an einer roten Fußgängerampel, die Fußgängern ermöglicht, eine selten befahrene Dorfstraße zu queren. Du kennst Dich hier aus, wohnst seit Jahren in unmittelbarer Nähe und würdest jede Änderung der Situation mitbekommen. Kein anderer Fußgänger, dem Du ein schlechtes Vorbild sein könntest ist weit und breit zu sehen, kein anderer Verkehrsteilnehmer ist auf der weit und breit einsehbaren Straße zu erkennen. Gehst Du rüber oder bleibst Du stehen?
Ich finde, das rübergehen ist vertretbar. Ich finde aber auch, dass es auf die Motivlage ankommt. Wer nämlich die Abwägung, die in meinem Beispieltext suggeriert wird, vornimmt, der "darf" gegen die Regel verstoßen. Wer ohne nach links und rechts zu schauen "Weil das immer schon so geklappt hat" die Straße quert, oder wer sagt: "Mir doch egal, die Autos müssen bremsen" und blindlinks, unausgeschlafen und mit besoffenen Kopf losmarschiert, der "darf" nicht.
In der Geschichte des WWWs hat es soviel Kritik am W3C gegeben. Wenn es immer nur nach den Standards des W3C gegangen wäre, würden wir ja heute noch in Höhlen hausen ... ;->
... oder wieder in Höhlen hausen :-) Man sollte halt möglichst oft wissen was man (nicht) macht und warum man es (nicht) macht und was daraus folgen kann.
Viele Grüße
Swen Wacker