Lieber marctrix,
Könntest du mal erläutern, warum denkst, wer Deine Meinung nicht teilt, kann nicht an einer sinnvollen Lösung interessiert sein?
Deine Argumentation liest sich in ihrer Knappheit (wer bei diesem sehr komplexen Thema richtig verstanden werden will, muss ausführlich sein!) so, als gäbe es "Schulbildung" oder eben "Kriminalität" als die beiden Wege, die ein Mensch gehen kann. Die Möglichkeiten der "Schulbildung" reduzieren sich nicht nur auf Gymnasium und auch eine Lehre erfordert den Besuch einer weiterführenden Schule (hier Berufsschule).
Vielleicht war meine Verwendung des Begriffs "weiterführende Schule" in einer zu engen Bedeutung verwendet worden, aber "weiterführende Schulen" sind eben alle Schulen, auf die man nach dem Besuch der Grundschule gehen kann. Traditionell waren das in Baden-Würrtemberg die Hauptschule, die Realschule und das Gymnasium. Wer eine Lehre anstrebte, war traditionell in die Hauptschule gegangen, hat dort den sogenannten Hauptschulabschluss gemacht, um dann an einer Berufsschule begleitend zu seiner Lehre seinen Beruf zu erlernen. Auch Realschüler, die an der Realschule den Abschluss gemacht hatten, mussten dann mit ihrer "mittleren Reife" entscheiden, welche Berufsausbildung sie anstreben, selbstverständlich verbunden mit dem Besuch einer Berufsschule.
Wer studieren wollte, ging entweder den direkten Weg über das Gymnasium mit Abitur und anschließendem Studium, oder den indirekten Weg über Realschule mit Berufsausbildung und anschließendem "Aufsatteln", um das Abitur "über den zweiten Bildungsweg" zu machen.
Nach dem Besuch der Grundschule kommt also "die weiterführende Schule" in egal welcher Form, denn bei uns gilt die Schulbesuchspflicht für neun Jahre. Wer bereits in diesen neun Jahren für sich entscheidet, dass "die Schule" nichts für ihn oder sie sei, möge doch bitte spezifizieren, welche Schulform er oder sie gerade besucht, bei der er oder sie das für sich festgestellt hat.
Dann wird es Zeit, dass du dich am Riemen reißt und zivilisiert diskutierst.
Ich mag mich mit meinem Eindruck stark täuschen, jedoch dachte ich genau das zu tun.
Auf die Umfrage speziell kommt es überhaupt nicht an. Wenn du meinst, dass es nur die Alternative zwischen weiterführender und anderer weiterführender Schule gibt, so ist das realitätsfern.
Aha... wie gesagt, wir haben neun Jahre Schulbesuchspflicht. Davon entfallen vier auf die Grundschule und fünf auf die weiterführende. Welcher Realität bleibe ich da fern?
Nichts anderes soll das Beispiel aus Moskau illustrieren.
Dazu war es absolut ungeeignet, da es sehr unscharf einfach "die Schule" ersetzen wollte. Und da das Thema sehr kompliziert ist, darf man nicht einfach unscharf irgendwelche Argumente anführen, wenn man ernsthaft an dieser Diskussion teilnehmen möchte. Und genau hier wollte ich Dich kritisieren. Vielleicht ist es jetzt klarer geworden.
Menschen, die frühzeitig auf einen Schulabschluss verzichtet haben. Und nein, die sind nicht alle Berufsmörder geworden. Manche beziehen auch einfach HartzIV oder gehen putzen oder machen sonst etwas, wo sie keine Freude dran haben, weil sie die Folgen ihrer Verweigerung als (ganz) junge Menschen nicht überschaut haben.
Verweigerung? Das ist etwas völlig anderes als ein Scheitern mangels Eignung. Das Verweigern setzt eine Motivation voraus, die das System und die Möglichkeiten ablehnt, die es bietet.
Oder resigniert haben.
Auch hier ist nicht offensichtlich, dass das aus Mangel an Eignung geschieht. Die Gründe sind wie im Leben eben fast immer sehr vielfältig. Es käme auf den einzelnen Fall an. Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass das System unserer Schulbildung generell Menschen ausschließt oder nicht für alle Menschen Möglichkeiten böte.
Wenn jemand für sich beschließt, dass das gesamte(!) Schulsystem für ihn oder sie nur ein Scheitern bietet, dann liegen Probleme vor, die entweder einen Psychologen oder gar einen Psychiater erfordern.
Das mag sein. Aber wie erreicht er die? Und was ist mit denen, die ohne Resignation (vielleicht zu recht) erkennen, dass unser Schulsystem ihnen kaum eine Chance gibt.
"Er" erreicht niemanden. Wer psychologische Beratung benötigt, muss selbst aktiv danach suchen. Die Lage ist hier dermaßen beschissen, dass Hilfesuchende monatelange Wartezeiten inkauf nehmen müssen, ehe ein Platz bei einer der psychologischen Beratungsstellen zur Verfügung steht. Und dann wird ihnen dort auch nicht wirklich geholfen, da man dort nur berät und nicht therapiert. Das bedeutet, dass man erkennen muss (Berater oder Betroffene), dass man gleich einen Therapeuten hätte aufsuchen müssen. Bei den Therapeuten gibt es auch schon wieder enorme Wartezeiten.
Dass das so beschissen ist zeigt, dass unsere Gesellschaft krank ist. Seelisch krank! Und es wird zu wenig eingesehen, dass das so ist. Daher ist vielen Menschen gar nicht bewusst, dass sie vielleicht einmal einen Therapeuten aufsuchen müssten, der Hilfe zur Selbsthilfe geben könnte. Und hier liegt das grundsätzliche Problem: Psychologische Hindernisse werden insbesondere von den Betroffenen häufig nicht als solche erkannt, weshalb man sich dann auch nicht zu helfen weiß und die Ursachen und ihre vermeintlichen Lösungen woanders sucht.
Je nach Voraussetzung ist das unter Umständen eine realistische Einschätzung (keine Ahnung, ab welchem Alter man diese Einsicht tatsächlich haben kann).
Es braucht Expertise, um eine korrekte Einschätzung treffen zu können. Und wer hat diese Expertise? Und wird dieser Person dann genügend geglaubt?
Von uns Lehrkräften wird allerhand verlangt. Wir sollen nicht nur Vermittler von Lernstoff sein, sondern auch Pädagogen. Die Pädagogik endet aber da, wo Therapeutik beginnt. Was aber nun eine Lehrkraft anhand ihrer Beobachtungen rät und wovor sie warnt, wird gerne mal belächelt, denn in diesen Dingen kennt man sich ja aus - jeder war schon einmal auf eine Schule gegangen.
Seit wir hier in Baden-Württemberg den Wegfall der Grundschulempfehlung haben, in der Lehrkräfte nicht nur anhand von Notenergebnissen, sondern vor allem auch anhand von jahrelanger Beobachtung der Kinder ihre Empfehlungen für die Art der weiterführenden Schule (wir erinnern uns: fünf weitere Jahre Schule!) aussprechen, können Eltern frei entscheiden, an welcher weiterführenden Schule sie ihr Kind anmelden. Ob es die Eignungen dazu hat oder nicht, darf die Schule dann noch nicht einmal erfragen, da die weiterführenden Schulen keine Berechtigung haben, die Grundschulempfehlung überhaupt einzusehen!
Es kann aber auch Ablehnung des Systems dahinter stecken.
Ist die sinnvoll oder zielführend? Natürlich hat unser Schulsystem seine ganz gehörigen Macken, das kann und will ich nicht abstreiten. Aber wie sähe eine bessere Lösung aus? Die hat dann auch niemand. Und damit bleibt wieder alles beim Alten. Bis auf die Änderungen, die alle Jubeljahr von der Politik kommen, denn neue Politiker dürfen nicht alles beim Alten belassen, denn dann haben sie ja nichts bewirkt! Da wird dann höchst fragwürdigen pseudopädagogischen Ideen nachgegangen (wer hatte denn die Idee, dass man Grundschüler frei Schnauze schreiben lasse solle, anstatt die Rechtschreibung einzuüben, nur "damit sie überhaupt schreiben"??). Dass dann in der Summe viel systematischer Unsinn geschieht (quasi Analphabeten im Abitur!), überrascht kaum. Und wenn die Politik Wählerstimmen braucht, dann pusht sie auch die Ungeeigneten in die Schularten.
Soll ich noch mit Inklusion anfangen, oder reicht das hier schon?
Die alle weiter durch das System zu schleusen macht jedenfalls nicht viel Sinn. Und darum lehne ich das Verhalten der Lehrerin ab.
Da sind wir endlich einmal einer Meinung.
Man hilft Menschen nicht, indem man sie belügt. Das ist zwar das Tagesgeschäft der Politik, aber nicht das der Pädagogik. Wer will, kann Möglichkeiten nutzen. Wenn er aber aus welchen Gründen auch immer eben nicht will, dann hilft das beste Schulsystem nichts. Was das Können angeht, so gibt es im Grunde für jeden Geist die passende Schullaufbahn.
Da du hier offenbar Problem-Lösungen erwartest: ich habe keine. Der Waldorf-Ansatz scheint mir sehr interessant und ist mir sympathisch. Ich weiß aber nicht, für wie viele Menschen der taugt.
Das Problem im von mir verlinkten Artikel ist nicht das Schulsystem, sondern die falsche pädagogische Warte der zitierten Lehrkraft. Wenn Tarik in einer Familie lebt, die sehr von seinen Deutschkenntnissen abhängt und ihn so für ihr Wohlergehen einspannt, bietet diese ihm nicht die Freiheit, die er benötigt, um sich ganz seiner Schule zu widmen. Wenn dann auch noch die zitierte Haltung der Familie dazukommt, dass ein Nichterreichen des Abiturs ein Tabu ist, dann ist der Schlamassel perfekt. Er wird genau von denen aktiv daran gehindert die hohen Erwartungen zu erfüllen, die eben jene an ihn stellen. Und genau hier wäre jetzt anzusetzen. Die Familie muss lernen, wie sehr sie Tarik belastet und damit den Erfolg seiner schulischen Anstrengungen behindert. Sie muss lernen, dass sie entweder Tarik wesentlich entlasten und sich selbständig um ihre Belange kümmern muss, oder dass sie Tarik eben aus dieser Verantwortung entlässt, indem sie die an ihn gestellten Erwartungen aufgibt. Aber hier hätte die zitierte Lehrkraft wesentlich mehr Mut und Einsatz zeigen müssen, der über ihr pädagogisch verbrämtes Mitleid deutlich hinausgeht.
Schon allein, weil es ein christlicher Ansatz ist, wird es aussichtslos die vielen Menschen anderen Glaubens dafür zu begeistern, die auch im bestehenden System schon Probleme haben.
Was hat denn der Ursprung des Ansatzes mit seiner Ausführung zu tun? Müssen denn alle Waldorfschüler in ihren Schule christliche Gebete beten?
Liebe Grüße,
Felix Riesterer.