Sup!
Es wir immer axiomatisch vorausgesetzt, daß der Holocaust (was so ungefähr "komplett verbrennen" heisst, und aus dem griechischen kommt) unvergleichlich und vor allem unvergleichlich schlimm sei.
Nun ist es aber eigentlich so, daß alles, was sich kategorisieren, mit Kriterien beurteilen und mit Maßstäben messen läßt, vergleichbar ist - also auch die Verbrechen der Nazis, die im Gegensatz zu ihrer eigenen Meinung keine Übermenschen waren und darum folglich auch kein "Über-Verbrechen" begangen haben können, daß für alle Zeiten unübertroffen bleiben muß.
Es mag sein, daß weniger Leute in Gulags gestorben sind als in KZs, und es mag sein, daß prozentual auf die Gesamtzahl der jeweiligen Gruppe bezogen weniger Indianer gestorben sind als Juden - aber ist ein solcher Vergleich denn schon per se verwerflich? Schmälert es die Schwere eines Verbrechens, wenn ähnliche Verbrechen begangen werden, besteht wirklich die Gefahr, daß der Holocaust eines Tages als "ein Verbrechen unter vielen" abgetan und vergessen wird, und wenn ja, ist es dann nicht hauptsächlich wichtig, daß die Leute sich an irgendein Verbrechen als schlimm und in Zukunft zu vermeiden erinnern, als ausgerechnet an dieses eine?
Ist es nicht auch ziemlich merkwürdig und pervers, für ein Verbrechen an einem Volk die ewige "Schlimmheitsrekordmarke" in Anspruch zu nehmen? Was soll man denn den Hutu erzählen, die neulich von den Tutsi abgeschlachtet worden sind - "War ja nicht so schlimm, da solltet ihr mal den Holocaust sehen, Jungs!" ?!?
Ist nicht jeder Mord gleich schlimm? Wenn man bei solchen Dingen nicht (auf-) rechnen darf, wenn quasi jegliche Arithmetik mit Zahlen bei Mord verboten ist (was im wirklichen Leben nicht der Fall ist, denn Doppelmord wird schwerer bestraft als einfacher Mord, und eine SoKo für einen Massenmörder kriegt mehr Mittel, als eine einfache Mordkommission), was sind dann die Kriterien, die den Holocaust zum ultimativ schlimmsten Verbrechen aller Zeiten machen?
Eigentlich müssten alle konkreten, im Hier und Jetzt stattfindenden unrechten Dinge für uns schlimmer bzw. gewichtiger sein als vergangene Dinge, denn nur in der Gegenwart können wir etwas verbessern.
Was nützt es, wenn wir den bösen Mythos Holocaust nähren, indem wir mantraartig wiederholen, der H. sei unvergleichlich schlimm gewesen, wenn wir darüber vergessen bzw. aus den Augen verlieren, daß z.B. die Todesstrafe in den USA noch immer nicht abgeschafft wurde, und dort ein angeblich demokratischer Staat einen eigenen Behörden-Apparat inkl. besonderer Ausrüstung zur Ermordung von Menschen vorhält?
Warum hat unsere Gesellschaft diese Sprachregelung erfunden, der Holocaust sei unvergleichlich (schlimm), was ist ihre Funktion?
Ich will nicht verleugnen, daß der Holocaust sehr sehr (um nicht zu sagen: "unvergleichlich" und "unermesslich") schlimm war, aber ich denke dennoch, daß er zu vergleichen ist oder zumindest sein sollte.
Bei näherem Nachdenken glaube ich, dass das Problem der deutschen Sprache hier vor allem der fehlende Elativ ist, mit dem sich gut ausdrücken lassen würde, daß der Holocaust "wahnsinnig / unvergleichlich / unermesslich schlimm" war; was einem Superlativ nahe käme, aber doch die Existenz ähnlich schlimmer Dinge zulassen würde.
Da es aber keinen Elativ gibt, bleibt nur die Konstruktion der äquivalenten Bedeutung mit Hilfsadjektiven wie "unermesslich" und "unvergleichlich", was vielleicht missverständlich ist.
Vielleicht verstehen wir also den Satz, der Holocaust sei unvergleichlich schlimm, falsch, wenn wir daraus folgern, es sei jeglicher Vergleich des Holocausts dadurch verboten. Vielleicht handelt es sich in der Tat nur um eine Ersatzkonstruktion für den Elativ.
Daß es ungern gesehen wird, wenn der Holocaust mit anderen Verbrechen der Menschheitsgeschichte verglichen wird, könnte natürlich an folgendem liegen:
Die Menschen haben intuitive Maßstäbe dafür, ob etwas schlimm ist oder nicht, abhängig davon, wie groß der absolute und relative Schaden ist. Wenn der letzte Wal einer Art stirbt ist es schlimmer, als wenn ein häufiger Wal stirbt, und wenn 20 Kinder verunglücken, ist es schlimmer, als wenn eins überfahren wird.
Der Grund dieses Holocaust-Unvergleichlichkeits-Tabus könnte also sein, daß es geschmacklos wäre, wenn diese Maßstäbe zur Anwendung kämen. Also quasi: "Na, es sind ja noch genug entkommen, es war also nicht so schlimm" oder "Die Bolschewiken haben auch viele ermordet".
Es ergibt sich also ein Dilemma zwischen pietätvollem Umgang mit der Vergangenheit und der Anwendung objektiver Bewertungsmaßstäbe auf die selbige.
Und natürlich interessiert mich, trotz aller Überlegungen, die ich jetzt selbst angestellt habe: Warum ist Eurer Meinung nach der Holocaust unvergleichlich? Ist er es? Sollte er als unvergleichlich gelten oder nicht? Und warum wird uns gelehrt, daß er unvergleichlich sei?
Gruesse,
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Elite ist mein zweiter Vorname