Hallo Andreas und der Rest der Threadteilnehmer,
Wie kann es sein, dass ein Land wie Deutschland nicht mal in der Lage ist, ein funktionierendes Maut System einzuführen???
Waren da nicht schon bei der Ausschreibung Unstimmigkeiten?
sorry erst mal für die Anonymität, aber es erscheint mir aus beruflicher Sicht sinnvoller
ich möchte die Gelegenheit nutzen, und mit einigen Märchen aufräumen, die hier im Thread erzählt wurden
Mittlerweile habe ich schon einige - auch große - Ausschreibungen vom Bund miterlebt und kann aus eigener Erfahrung berichten.
Eines der größten Irrtümer im Thread ist die geäußerte Ansicht, dass die Firmen den Bund so richtig melken können. Ich habe noch keine Ausschreibung des Bundes erlebt, bei der nicht knallhart um den niedrigsten Preis verhandelt wurde. Da werden Spitzenleute verlangt, die praktisch alles können, aber für einen Stundensatz von zwischen 60 und 80 Euro arbeiten sollen.
Verloren hat ein Anbieter schon, wenn er seine Kalkulation real gestaltet und alle Aspekte berücksichtigt die auftreten können.
Verloren hat ein Anbieter schon, wenn er seine Leute (Positionsprofile) so beschreibt, dass sie genau Auskunft darüber geben, was sie tatsächlich können. Gerade der Bund als Auftraggeber will Leute die praktisch alles können. Auf dem Webbereich übertragen, würde das z.B. bedeuten:
extrem fit in HTML, CSS, JavaScript
kennt alle Browserspezifika
kann einen Apachen im Schlaf konfigurieren
kann extrem gut Java, PHP, JSP, XML, XSLT
kennt eine Reihe von CMS-Systemen und weiß diese optimal einzusetzen
kennt sich mit Bereich Oracle und MySQL prima aus
ist in der Lage Leute zu allen vorhergenannten Themen weiterzubilden
kann Projekte genauso gut leiten wie programmieren
Jeder der ein bissel Ahnung von der Materie hat, weiß dass es solche Leute nicht gibt. Also wird in diesem Bereich gelogen, was es zu lügen gibt. Denn sagt der Anbieter die Wahrheit ist er draussen aus der Ausschreibung, denn die Profile werden immer so bewertet, dass davon ausgegngen wird, dass der Anbieter gelogen hat. Achso, habe ich schon gesagt, dass der Bund grundsätzlich personalisierte Profile will. Hier wird jedes Datenschutzgesetz ignoriert. Entweder die Profile werden namentlich geliefert oder der Anbieter ist draussen.
Soweit erst mal zu den Rahmenbedingungen einer Ausschreibung. Eine Ausschreibung für den Bund ist zudem immer eine sehr sehr umfangreiche Angelegenheit. Mit ziemlicher Sicherheit kann ich sagen, dass allein das Angebot mindestens 1000 Seiten haben muss. Bei dem Projektumfang ist es realistisch anzunehmen, dass es wohl 2000 Seiten hat.
Soweit erst mal allein zum Angebot. Das das keine kleine Firma leisten kann ist klar. Solche Vorleistungen können sich nur wenige Firmen leisten.
Jetzt zur Realisierung. Soweit ich weiß, stand der Termin - wie bei allen Projekten dieser Größenordnung - sehr zeitig fest. Ein Termin an dem nicht zu rütteln ist.
Im Thread wurde ja schon mehrfach erwähnt, dass über die Vertragsstrafe groß diskutiert wurde. Nicht erwähnt wurde, dass das reale Auswirkungen auf das Ergebnis hat. Keine Firma beginnt zu entwickeln, bevor sie nicht einen Auftrag hat. Die Vertragsverhandlungen zogen sich aber massiv in die Länge und schränkten die Entwicklungszeit ein, denn nichts änderte sich am Realiserungstermin.
Leider stehen sowohl Kunde als auch Verkäufer auf den Standpunkt, dass, wenn nur genug Personal eingesetzt wird, diese das Projekt auch schaffen. Übertragen dargestellt, dass eine Anwendung für die ein Entwickler 100 Tage braucht, 100 Entwickler nur 1 Tag brauchen. Diese Rechnung geht nicht mal bei einer so simplen Tätigkeit wie das Pinseln einer Wand auf.
In der Software- und Hardwareentwicklung ist das regelrecht tödlich. Wenn die Zeit fehlt, die Schnittstellen zu spezifizieren, nutzt der beste Entwickler nichts, denn es wird garantiert irgendetwas vergessen. Es besteht eben ein Unterschied darin, ein kleines überschaubares Programm zu schreiben oder eine Anwendung zu erstellen, die über x verschiedene Schnittstellen verfügt.
Hier sehe ich auch die Ursachen für die Problem mit der Maut. Es fehlte an ausreichend Zeit _alle_ Schnittstellen zu definieren. Nur eben, wenn 100 Entwickler eingesetzt werden, müssen die auch beschäftigt werden. In der Spezifikationsphase können aber nicht 100 Entwickler eingesetzt werden. Die logische Folge ist, dass die überflüssigen Entwickler bereits implementieren, _bevor_ die Spezifikationsphase abgeschlossen ist.
Um auf das Malerbeispiel zurückzukommen. Es wird angefangen die Wand zu pinseln, bevor feststeht, welche Farbe verwendet werden soll.
:-) nicht vergessen, darf man auch das Berichtswesen über den Stand der Realisierung. Das ist so heftig, dass auf einen Entwickler mindestens zwei Projektleiter kommen, die nichts weiter tun, als Berichte zu schreiben. Da dem Entwickler die Zeit fehlt ausführliche Berichte zu erstellen, sind die zuständigen Projektleiter gezwungen, ihre Berichte mehr oder weniger zu erfinden. Sie wissen eben nichts davon, wie viel Zeit es kostet, um Bugs in der Standardsoftware zu beseitigen. Wird der Entwickler auch noch krank oder hat Urlaub, kennt die ganze Kalkulation sowieso flöten, denn der Zeitplan gestattet keine Pufferzeiten.
Die Summe machst eben und das Zeitlimit ist wie in sehr vielen Projekten zu knapp.
Ich kann mich erinnern, dass ein viel preiswerteres Maut-Verfahren einer deutschen UNI aus unerklärlichen Gründen abgelehnt wurde.
Es wird ausreichend Gründe geben. Ein Grund ist sicherlich, dass die Continuität der Weiterentwicklung sichergestellt werden muss. Ein weiterer Grund wird sein, dass langlebige Software eben auch an Personen hängt. Die Personalpolitik an Unis gestattet hier kaum langfristige Planung. Ein Student ist keine Größe, die finanziell bewertbar ist und die entwicklungstragenden Mitarbeiter haben im Regelfall einen Arbeitsvertrag der kaum über ein Studienjahr bestenfalls über eine Aspirantur hinausreicht. Was an Wissen verloren geht, wenn ein Mitarbeiter geht, interessiert die zuständigen Stellen kaum
Zudem ist es ein Unterschied, ob du auf einen Anbieter kommerzieller Software zurückgreifst oder auf ein OpenSource-Projekt. Im ersteren Fall wird der Anbieter versuchen dein Problem zu lösen, unabhängig davon ob du den Fehler verursacht hast oder nicht. Abgesehen davon entwickelt ein kommerzieller Anbieter im Normalfall sein Produkt weiter.
Im letzteren Fall muss der Entwickler die Ursache herausfinden. Gegebenenfals die Weiterentwicklung eigenständig vorantreiben.
Fazit: Der Erfolg eines Projektes ist abhängig von den Randbedingungen, die oft nur wenige Personen beurteilen können.
Viele Grüße
ich
PS: Gott sei Dank, bin ich nicht mit diesem Projekt bestraft.