Thomas Gröger: "Normaler Nationalismus"

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Ich behaupte, es gab eine Weile eine positive nationale Identität in Deutschland, und zwar des Inhalts:

  • Die Macht des Staates, auch der Mehrheit, bedarf einer Grenzensetzung durch das Recht (Grundrechte, die jeder Einzelne unmittelbar einklagen kann; ein darüber wachendes, unabhängiges Verfassungsgericht; Grundgesetzänderungen nur mit Zweidrittelmehrheit; Unwandelbarkeit gewisser Verfassungsgrundsätze selbst durch Zweidrittelmehrheit ("Ewigkeitsklausel" des Grundgesetzes). Stichwort: "Verfassungspatriotismus".

  • Eine Schärfung des Blicks für die Unterordnung elementarer Rechte des Einzelnen unter irgendein postuliertes "Gemeinwohl", unter irgendwelche Privilegien für ein zufällig zusammengesetztes Kollektiv (Rasse, Geschlecht, Nationalität) oder gar unter wirtschaftliche Interessen.

Daß das Inferno der Nazizeit hierzulande wenigstens in den Meinungseliten dazu geführt hat, daß diese Lehren wie in keinem anderen Land konsequent herausgearbeitet und verinnerlicht wurden, war für mich persönlich immer der einzige sinnvolle Inhalt einer "nationalen" Identität.

Freilich ist das kein nationalitätsspezifisches Nationalbewußtsein - jeder Nation stände dieses Bewußtsein gut zu Gesicht, und da hätte ich mir sogar mehr deutsches Sendungsbewußtsein gewünscht (es wäre dann gerade nicht das "deutsche" Wesen, an dem die Welt genesen soll, sondern gerade ein gegenüber jedem Kollektiv, auch dem deutschen, kritisch gegenüber stehendes Wesen).

Statt dessen kam es in dem letzten Jahrzehnten zu einer schleichenden "Normalisierung". Es war schließlich möglich, daß selbst die SPD einer Verfassungsänderungsbestrebung zu einer Zweidrittelmehrheit verhalf, mit der das Recht auf Asyl gerade für die Ärmsten unter den Verfolgten faktisch abgeschafft wurde (durch die Drittstaatenregelung kann nur noch einen Asylantrag in Deutschland stellen, wer direkt auf dem Luftweg einreist, sich also ein Flugticket leisten kann). Auf dem Höhepunkt mörderischer Ausschreitungen gegen Ausländer (Rostock, Hoyerswerda) kann ein bayerischer Ministerpräsident von "Überfremdung" reden, dennoch bis heute im Amt sein und sogar zum Kanzlerkandidat aufsteigen, während seine Partei immer noch nicht wegen verfassungsfeindlicher Tendenzen vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Ein hessischer Ministerpräsident kann der glatten Lüge in einem Skandal überführt werden, der darin bestand, daß man schwarzes Parteigeld als Spenden jüdischer NS-Opfer deklarierte, und ebenfalls noch im Amt sein. Es konnten zweistellige Milliardenbeträge für einen Umzug einiger Behörden von Bonn nach Berlin ausgegeben werden (eine sehr unmittelbare Konsequenz von "Nationalbewußtsein"), obwohl zeitgleich noch immer jeden Tag Menschen an den Folgen von bitterster Armut verrecken - im Grunde ein aberwitziger Massenmord durch Geldvernichtung (bei dem Thema gerate ich noch immer in Rage, die Mehrheit im Bundestag für den Umzug war für mich ein Schlüsselerlebnis, seitdem kann ich Politiker als solche nicht mehr ernst nehmen). Ein chinesischer Ministerpräsident, der unmittelbare Mitverantwortung für das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens trug, konnte mit dem üblichen grinsenden Handshake vor den Kameras begrüßt werden.

Alles in allem eine Normalisierung hin zur üblichen, normalen Kurzsichtigkeit, Oberflächlichkeit und absurden Prioritätensetzung (bestenfalls) bis hin zur ganz normalen, schäbigen rechtspopulistischen oder Wirtschaftsinteressen über alles stellenden Charakterlosigkeit.

Nein, da ist mir eine anormale Indifferenz gegenüber dem zufälligen nationalen Kollektiv, die jedenfalls jede Gefahr der Instrumentalisierung einer deutschtümelnden Bierzelt- und Stammtischhoheit automatisch ausschließt, und eine gewisse anormale Hypersensibilität für moralisch abwegige Prioritäten sehr viel sympathischer, und das wird sich auch nicht ändern.

Mann kann bei dem Thema auch noch eine Schicht tiefer graben und eine noch allgemeinere Problematik beleuchten:  Nicht nur das nationale, sondern alle Kollektive werden regelmäßig überschätzt. Kollektive sind keine Träger von Menschenrechten. Kollektive können kein Leid empfinden. Kollektive können nicht kreativ sein. Einzelne Menschen sind immer wichtiger als Kollektive. Der Kaninchenzüchterverein, die Nation, die Menschheit: Derartige Kollektive verdienen allesamt weniger Pathos als: Das Individuum.

Wer nichts Wertvolleres findet, an das er sein Pathos heften kann, als das regionale Kollektiv, in dem er zufällig geboren wurde, ist ein armer Mensch.

Wahrscheinlich muß für die Masse der Bevölkerung ein "gezähmtes" Nationalbewußtsein gepflegt werden, damit nicht die Rechtsradikalen im Trüben fischend den größeren Schaden anrichten. Insofern stimme ich Stefan Münz und anderen Vorrednern zu.

Aber wer für sich persönlich auch auf der letzten Reflexionsebene noch irgend eine Form von "Nationalstolz" für unentbehrlich hält, dem sind irgendwo unterwegs ein paar Denkfehler unterlaufen, glaube ich.

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Deutschland - eine türkische Vorstadt

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