Hallo molily,
Die Kehrtwende des W3Cs (Gründung einer neuen HTML-Arbeitsgruppe, die eben nicht auf XML, sondern auf die Standardisierung von Tag-Soup-Parsing setzt) wurde zum großen Teil durch den Druck der Webstandards-Community angestoßen - in der spricht niemand mehr von XHTML, viele sind demonstrativ zu Tag Soup zurückgekehrt und sowieso kommen die wenigsten auf die Idee, XHTML als application/xhtml+xml auszuliefern. Selbst hierzulande sagen XHTML-Enthusiasten, dass sich das einfach nicht lohnt. Also, wo ist die große Nachfrage? Wo lecken sich die Webautoren die Finger nach XHTML?
Wenn der XML-Weg tatsächlich beerdigt würde zu Gunsten eines weiterwurstelns im Tag-Soup-Stil, würde das wohl im wesentlichen bedeuten, dass man das Web gegen Microsoft eben nicht weiter entwickeln kann. Was der IE kann, ist nach wie vor das, was man in der Praxis einsetzen kann, für die anderen Browserhersteller entsteht dadurch auch gar kein Bedarf mehr, groß über HTML 4 und CSS 2 hinauszudenken, folglich tut es eigentlich auch keiner.
Das Ziel von XHTML war es nicht, das Leben der Webautoren leichter zu machen (HTML 4 ist ja erstmal genau so einfach). Das Ziel war, HTML auf eine aufgeräumte, wohldefinierte Basis zu stellen und damit die Weiterentwicklung und die Implementierung zu vereinfachen.
Viele der vom W3C entwickelten Standards waren auch ein Erfolg, nur nicht im Web. XML hat sich als Datenaustauschformat praktisch überall etabliert, XSLT und XSchema finden breite Verwendung, selbst RDF wird meines Wissens mittlerweile von Oracle unterstütz (und dann wahrscheinlich auch von anderen großen DBs), SVG ist ein durchaus brauchbares Vektorgrafikformat geworden, selbst das viel gescholtene XForms hat in OpenOffice Einzug in die Praxis erhalten.
Nur im Web sieht man nichts davon oder bestenfalls auf der Serverseite.
Gerade dieses Ziel, eine saubere Grundlage für die Weiterentwicklung zu bekommen, wurde durch die Weigerung von MS, XHTML richtig zu unterstüzen, verhindert.
Ich sehe auch nicht, was die Rückkehr zu einer Tag-Soup bringen soll.
XML bietet Erweiterungsmöglichkeiten, bei Tag-Soup wird man wahrscheinlich wieder zu Bastellösungen gezwungen sein (Micro-Formate und so Kram).
Ich habe den Eindruck, dass zur Zeit einfach wieder Konzeptlosigkeit angesagt ist und man am liebsten alles standardisieren will, was sich irgendjemand nebenbei ausgedacht hat, um ein konkretes Problem zu lösen.
Quasi eine Renaissance der Layer- und Fonttag-Phase.
Die zu erwartende Gegenbewegung zum Validator- und "Semantik"-fanatismus, der hier früher angesagt war.
Seit man mit HTML und JS halbwegs dynamische Anwendungen bauen kann, scheint wieder eine gewisse Goldgräberstimmung zu herrschen, bei der der erzielte Effekt zählt und sich kaum jemand dafür interessiert, das Medium technisch tragfähig weiter zu entwickeln. Das W3C tut gut daran, auf diese Entwicklungen zu beachten, aber sollte sich davon nicht vereinnahmen lassen. Seine Aufgabe ist es, die technischen Grundlagen für das Web langfristig zu entwickeln und nicht die Bedürfnisse von hippen Web 2.0 Diensten zu erfüllen.
Vielleicht vernachlässigen die bisherigen XHTML 2-Entwürfe die Bedürfnisse von nicht-Profis zu sehr und es ist sicher sinnvoll darüber nachzudenken, wie man weiterhin einen halbwegs breiten Zugang zum Web ermöglichen kann.
Deswegen jetzt der gewachsene Konzeptlosigkeit den Segen als W3C-Empfehlung zu geben halte ich für den falschen Weg.
Die technische Entwicklung des Web scheint mir nicht im Wesentlichen durch ein verschlafenes W3C gebremst zu werden, sondern nach wie vor durch mangelnde Konkurrenz auf dem Browsermarkt. Es ist ja nicht so, dass die neuen Standards von Webautoren abgelehnt worden wären, sie sind dort bislang erst gar nicht angekommen.
Grüße
Daniel