GMX stellt ein dynamisches Webmail-Interface vor und will sich damit ins Web-2.0-Zeitalter katapultieren
GMail und dynamische Webmail-Anwendungen
Googles GMail war einst die Vorreiter-Anwendung für das, was später Ajax und im weiteren Sinne Web 2.0 genannt wurde. Im Frühjahr 2004 beeindruckte Google mit einer völlig neuen Webmail-Oberfläche und erzeugte einen riesigen Andrang auf GMail-Accounts. Die JavaScript-Technik XMLHttpRequest
wurde für ein Interface-Konzept verwendet, das den Look & Feel eines herkömmlichen Desktop-Anwendung nachahmt. Erst ein Jahr später wurde dafür der Begriff »Ajax« geprägt – GMail war eines der paradigmatischen Beispiele.
Bei der vielen heißen Luft, die um »Web 2.0« gemacht wird, ist GMail noch heute eines der besten Beispiele für ein revolutionäres Designkonzept. Die Oberfläche ist im Vergleich zu heutigen grafisch ausgefeilten Ajax-Webanwendungen spartanisch, aber funktional - diese Philosophie zieht sich wohl konsequent durch die Google-Angebote. Im Jahr 2004 beeindruckte vor allem das superschlankes und schnelles Interface, denn Webmailer waren für gewöhnlich aufgeblasen, unübersichtlich und daher schlecht benutzbar. Einfach, schnell, intuitiv verständlich und minimalistisch sind Werte, die heute für unzählige Web-2.0-Anwendungen stehen.
Ist GMail mit anderen Webmailern vergleichbar?
GMails Besonderheit ist vor allem seinem Geschäftsmodell geschuldet: Der Webmail-Riese United Internet, der hinter GMX und Web.de steht, bietet nicht bloß nackte, kostenlose Webmailer an, die gegebenenfalls noch an eine Adressbuch- und Kalenderanwendung gekoppelt sind. Stattdessen schnüren GMX und Web.de Rundum-Sorglos-Pakete unter dem Schlagwort »Unified Messaging«. Die kostenlosen Accounts sind vor allem Appetizer, um Zusatz-Features sowie weitere Produkte zu bewerben (Webhosting, Internetzugang usw.), mit denen dann sicherer Geld verdient wird als mit der obligatorischen Banner- und Textwerbung. Die Startseiten dieser Webmailer sind dementsprechend als klassische Portalseiten aufgebaut, die auf Unterhaltung und Shopping durch fremdem Content setzen.
GMail hat auch in diesem Punkt einen revolutionären Ansatz, indem es alle Features kostenlos anbietet. Werbung findet sich in Form unaufdringlicher Google-AdSense-Anzeigen, die auf den Inhalt der gelesenen E-Mails reagieren. (Eine Konzept, das datenschutzrechtlich umstritten ist.)
United Internet zieht endlich nach
GMX springt nun nach drei Jahren Dornröschenschlaf, in denen das Webmail-Interface nicht grundlegend geändert wurde, auf den Ajax-Zug auf und kündigt »GMX Mail 2007« mit großen Worten an.
Notwendig war dieser Schritt auf jeden Fall, da bereits kleine JavaScript-»Dynamisierungen« der Bedienoberfläche die Benutzbarkeit entscheidend verbessern können. Gedacht ist das Kern-Interface anscheinend nicht nur für GMX, sondern auch für Web.de sowie 1&1, allesamt Marken der United Internet AG. Das lässt jedenfalls ein Blick in den Quelltext vermuten.
»GMX Mail 2007« – Erste Eindrücke
Beim Aufruf des neuen Interfaces, das sich derzeit im Beta-Test befindet, fällt erst einmal eines auf: Die Anwendung öffnet sich in einem klassischen Popup-Fenster. Früher wurden Webanwendungen prinzipiell in neuen Fenstern geöffnet, um den Eindruck der Desktop-Anwendung zu erzielen. Heute ein Anachronismus, der in Zeiten von Browsern mit »Tabs« eigentlich überwunden wurde.
Die Bedienung ist weitesgehend selbsterklärend. Der Hauptteil mit Ordnerübersicht, Symbolleiste, Nachrichtenliste sowie Nachrichtenvorschau ist vertraut und übersichtlich. Gänzlich unausgegoren, gezwungen und letztlich nur störend wirkt auf mich die grafische Gestaltung, die an die poppige Knallbonbon-Optik von Windows XP angelehnt ist.
Ein positives Gegenbeispiel ist hier weniger das spartanische und gestalterisch anspruchslose GMail. Aber beispielsweise Yahoo! Mail Beta ist gestalterisch durchkomponiert und kommt gleichzeitig ohne leere Schmuckeffekte aus. Im Falle des Yahoo-Interfaces sorgt die Gestaltung erst für den intuitiven Look & Feel eines Desktop-Programmes. Der GMX-Entwurf folgt dem gegenüber noch keinen klaren User-Interface-Patterns, beispielsweise wirken manche unbeschrifteten Symbole in der Werkzeugleiste unmotiviert.
Das Fensterkonzept scheint noch undurchdacht und inkohärent. Einerseits gibts es integrierte Layer-Fenster mit CSS und JavaScript, andererseits werden weitere echte Popup-Fenster geöffnet – vor allem bestehende Features, die noch nicht ins neue Interface migriert sind (Einstellungen, Adressbuch, MediaCenter, Filter usw.).
Unternehmenskommunikation in Zeiten von Web 2.0
Das Fenster-Chaos führt uns zum sogenannten »Entwickler-Blog«: Wunderbar, mag man vermuten, da hat GMX in Punkto Public Relations von anderen Web-2.0-Unternehmen gelernt, deren Mitarbeiter und Techniker über die Weiterentwicklung offen in einem Firmenblog berichten. Leider scheint die Kommunikationspolitik nicht der Realität angepasst worden sein, in der die Blogosphäre eine wichtige Rolle spielt und deren Feedback einem Unternehmen wertvolles Feedback liefern kann. Denn es handelt sich um kein klassisches Blog – http://betablog.gmx.net/
ist nur intern über ein Popup zugänglich, besitzt keinen RSS-Feed und ist mehr ein Newsticker mit Feedback-Formular. Schade, warum wagt GMX nicht mehr?
Technische Interna
Intern läuft das neue Interface auf Basis des JavaScript-Frameworks Qooxdoo, eine Rundum-Lösung für eigene Ajax-Benutzeroberflächen, die übrigens auch von 1&1-Mitarbeitern entwickelt wird.
Sonderlich performant scheint die Umsetzung momentan nicht zu sein, laut Firebug werden beim Aufbau der Anwendung 756 Kilobyte übertragen. (Zum Vergleich, GMail kommt auf 167 KB.) Für das schnelle E-Mail-Lesen ist demgegenüber selbst das nicht-dynamische Interface schlanker. Dafür, dass 38% der deutschen Bevölkerung mit Internet-Zugang noch Modem und ISDN nutzen, ist diese Situation unverständlich – gerade für diese Gruppe kann ein vernünftiges Ajax-Interface die Performance verbessern.
Bei jeder Aktion scheinen neben der nötigen HTTP-Anfrage drei weitere gestartet zu werden, die anscheinend zum Click-Tracking und zur Anzeige der Banner-Werbung dienen. Diese nimmt übrigens den überdimensionierten Header sowie eine dritte Spalte neben der Nachrichtenliste ein.
Über Firebug ist mir am Rande aufgefallen, dass beim Laden der Anwendung alle persönlichen Daten im JSON-Format vom Server eingelesen werden (http://service.gmx.net/fm07/g.fcgi/account/getcustomerdata
). Darin stehen alle E-Mail-Adressen bei GMX, Postanschrift und Geburtsdatum - wahrscheinlich alle personenbezogenen Daten und technische Account-Daten, die GMX so speichert. Ob es notwendig ist, diese Daten jedes Mal unverschlüsselt zum Client zu übertragen und dort zwischenzuspeichern, mag bezweifelt werden.
Zwischenfazit
Den ersten Schritt zu einem besseren Interface hat GMX endlich getan – das ist nur zu begrüßen. Leider kommt der Mehrwert der Ajax-Anwendung noch nicht voll zur Geltung. An die etablierten Vorbilder wie GMail sowie Konkurrenzentwicklungen wie Yahoo Mail Beta und Windows Live Mail Beta kommt der Entwurf noch nicht heran und wirkt vergleichsweise eckig und lieblos.
Sicher wird GMX am Beta-Entwurf noch weiter feilen, um einen runden Gesamteindruck zu schaffen. Hier wünsche ich mir, dass GMX endlich in die Offensive geht, alte Strukturen überdenkt und einen eigensinnigen »großen Wurf« wagt.