Wie kommt Microsoft aus seinem gegenwärtigen Dilemma heraus?
Selten sorgte eine Neuigkeit unter Standards-interessierten Webentwicklern für solche Kontroversen, wie die Bekanntmachung, dass der kommende Internet Explorer 8 seine Fehlerkorrekturen und verbesserte Standardunterstützung nur im Falle einer ausdrücklichen Einwilligung seitens der jeweiligen Webseite anwendet.
Die Ankündigung im englischsprachigen Magazin A List Apart durch einen Engagierten des Web Standards Projects, das mit Microsoft in Verhandlungen steht, sorgte für spontane Unmutsäußerungen, detailreiche Rechtfertigungen und durchdachte Ablehnungen von Prominenten der Webstandards-Szene. Alleine auf A List Apart wurden mehrere Wortmeldungen publiziert:
- Beyond DOCTYPE: Web Standards, Forward Compatibility, and IE8 von Aaron Gustafson
- From Switches to Targets: A Standardista's Journey von Eric Meyer
- They Shoot Browsers, Don't They? von Jeremy Keith
- Version Targeting: Threat or Menace? von Jeffrey Zeldman
X-UA-Compatible
heißt das Zauberwort, mit der Webautoren angeben können, für welche Internet-Explorer-Version eine Webseite Kompatibilität beansprucht, d.h. ursprünglich entwickelt wurde. Version targeting wird dieses Konzept genannt. Ab Version 8 wird der Internet Explorer alte Webseiten nicht mithilfe der neuesten Rendering-Engine darstellen, sondern mit einer ebenfalls mitgelieferten konservierten - im Zweifelsfall mit der des Internet Explorer 7. Folgt Microsoft dieser Logik konsequent, wird eine Webseite im Jahr 2010, wenn möglicherweise schon IE 9 erschienen ist, dargestellt, wie es der IE 7 aus dem Jahr 2007 getan hat - es sei denn, sie enthält eine entsprechende X-UA-Compatible
-Meta-Angabe.
Dahinter steht Microsofts Überzeugung einer möglichst vollständigen Abwärtskompatibität über längere Zeiten und mehrere Versionen hinweg, die schon mit dem sogenannten Doctype-Switch im Jahr 2001 eingeführt wurde.
»Don't break the web!« heißt das Credo der IE-Entwickler. Gemeint ist damit, dass sie keinen neuen Browser veröffentlichen wollen, der zwar vorzüglich standardkonform arbeitet, aber gerade deshalb die existierenden fehlerhaften Inhalte im Web nicht so darstellt, wie es sich Autoren dieser Inhalte wünschen. Denn viele Webseiten sind auf die gegenwärtige stark verbreiteten, aber grob fehlerhaften IE-Version zugeschnitten, anstatt sich an den Webstandards zu orientieren.
Obwohl der IE 7 nur die wichtigsten und brennendsten Fehler behoben hat, scheint Microsoft negatives Feedback von seinen Kunden bekommen zu haben. »Im IE 7 funktioniert meine Webanwendung nicht mehr!«, muss sich Microsoft tausendfach angehört haben. Dabei hat Microsoft ironischerweise nichts falsch gemacht, sondern nervige Browserbugs ausgebügelt, die andere Webentwickler jahrelang belastet haben.
Dem Dilemma, mit den nötigen einschneidenden Veränderungen am mangelhaften IE endlich aufholen zu wollen, ohne dabei die bestehenden mangelhaften Websites zu beeinträchtigen, versucht Microsoft nun durch das neu aufgelegte Opt-in-Modell zu entkommen. Selbst Befürworter stufen dies als Verzweiflungstat ein - tatsächlich ist es eine verzwickte Situation, aus der es keinen einfachen und eleganten Ausweg gibt.
Für mich ist die Diskussion um Für und Wider des »Version targeting« nur mäßig interessant und meine Meinung ist unentschieden, sodass ich hier nur auf die verschiedenen Wortmeldungen verweisen will - jeder möge sich sein eigene Meinung bilden. Für mich ist bei allen berechtigten Bedenken entscheidend, dass sich browserübergreifende, standardkonforme Webentwicklung für kommende IE-Versionen durch die angekündigten Fehlerkorrekturen und Verbesserungen weniger schmerzvoll gestalten wird.
Abstrahierend von dieser spezifischen Debatte stelle ich mir grundsätzlicher die Frage, ob Microsoft mit seinem Verständnis des Webs, seinem Verhalten zum Web und konkret seinen Software-Produkten für das Web die Zeichen der Zeit gehört hat. Und ob Microsoft überhaupt bereit und in der Lage ist, die nötigen Veränderungen mitzutragen.
In den Kontext dieser Frage gehört Jens Grochtdreis' lesenswerter Text Aus großer Macht ... (man ergänze: folgt große Verantwortung). Dabei berichtet er von seinen Eindrücken einer Microsoft-Präsentation: Microsoft sieht sich mit dem Frontpage-Nachfolger Expression, mit dem Flash-Konkurrenten Silverlight und schließlich den jüngsten und kommenden IE-Versionen wieder ganz vorne dabei. Diese Produkte sieht Grochtdreis aber nicht als so innovativ an, wie sie Microsoft-Vertreter verkaufen.
Hauptvorwurf ist, dass Microsoft das Internet als bloßen Teil seines Produktportfolios sieht. Daraus resultieren fragwürdige Entscheidungen wie die grenzenlose Abwärtskompatibilität, die mit der Einführung des »Version targeting« erneut verewigt wird. Diese Entscheidungen seien aus der Microsoft-Binnensicht verständlich, aber für das Web - das keine geschlossene Microsoft-Veranstaltung ist, sondern eine Eigendynamik besitzt - fatal.
Microsoft übt eine der hohen Verbreitung seiner Internetprodukte entsprechende Macht aus. Aus dieser Marktführerschaft entstehe aber auch Verantwortung, der sich Microsoft noch nicht konsequent stellt: Die Verantwortung sollte mit sich bringen, dass Microsoft sich zudem als notwendige Triebkraft des technischen Fortschritts im Internet versteht.
Der Forderung nach einer offensiven Kommunikation kann ich mich uneingeschränkt anschließen: Mir hat sich schon immer die Frage gestellt, warum Microsoft Standardunterstützung nur als verstecktes Feature promotet, um die kleine Webstandards-Szene ruhigzustellen. Andere Browserhersteller haben sich seit jeher die Standardunterstützung auf die Fahnen geschrieben haben und damit selbstbewusst ihren Kunden notfalls freundlich, aber bestimmt auf die Füße getreten - das ganze nennt sich Tech Evangelism (vgl. Die Evangelisten kommen).
Jeder andere Browserhersteller ist bemüht, in Kontakt mit tausenden Webseiten-Betreibern zu kommen, um diese von standardkonformen Techniken zu überzeugen und um letztlich ihre Browser zu unterstützen. Das hat Kompromissbereitschaft nicht ausgeschlossen, sondern beidseitigen Fortschritt ermöglicht. Nur weil diese undankbare Arbeit nach Jahren gefruchtet hat, kocht man heute nicht mehr im eigenen proprietären Sud, sondern kann zukunftsweisende Techniken wie HTML 5 implementieren und die Entwicklung von neuen Standards maßgeblich mitgestalten.
Zwar publiziert das IE-Team in seinem Weblog mittlerweile vor jeder neuen Softwareversion Anleitungen, wie Webentwickler ihre Seiten anpassen können, um der verbesserten Standardkonformität Genüge zu tun. Doch Microsoft muss einsehen, dass die langjährige und anhaltende Ignoranz gegenüber offensivem Tech Evangelism erst dazu geführt hat, dass Microsoft von manchen seiner Kunden absurderweise Kritik statt Applaus erntet, wenn sie IE 7 mit längst überfälligen Reparaturen ausliefern. Wer jahrelang nicht ausreichend kommuniziert, braucht sich nicht zu wundern, beim ersten Ton missverstanden zu werden - aber dann gilt es, die Missverständnisse umso deutlicher auszuräumen und seine Position zu verteidigen, anstatt sich weiter zurückzuziehen.
Microsoft ist derzeit im eigens geschaffenen Teufelskreis gefangen und ausbaden müssen es diejenigen Kräfte bei Microsoft, die den IE wieder als ernstzunehmenden Konkurrenten ins Spiel bringen wollen. Der Ausweg ist nicht bloß reaktives »Don't break the web« oder das defensive und ängstliche »Version targeting«, sondern ein Kurswechsel, bei dem Microsoft langfristig wieder als selbstbewusstes Subjekt auftreten kann.
Update: Microsoft entscheidet sich um, IE 8 Beta steht mit bemerkenswerten Neuerungen vor der Tür. Siehe Kommentare.