Hallo Christian,
Bevor jetzt alle mich, einen überzeugten Anhänger freier Software, als Gegner derselben darstellen, möchte ich noch kurz einwerfen, dass ich keineswegs die Multimedia-Fähigkeiten freier Software verleugnen will, ich will auch nicht Hardwareunterstützung oder ähnliches anprangern. Ich will, wie gesagt, nur darstellen, dass freie Software im Moment nichts für Anfänger ist.
Ich muss Dir da mal widersprechen. Mein erstes (und bis jetzt einziges Linux) war und ist Debian, also nichts anfaengerfreundliches. Fuer diese Distri hab ich mich entschieden, weil sie bei uns im Fachbereich eingesetzt wird und ich damit Ansprechpartner bei Problemen hatte. Zum Zeitpunkt der Installation war mein Kenntnisstand bzgl. Linux minimal: ausser Surfen und dem Abtippen des Befehls zum Mounten der Floppy konnte ich eigentlich nix.
Mit viel Muehe und jeder Menge lesen habe ich dann im Laufe der Zeit so ziemlich alles (ausser dem Scanner) an Hardware zum Laufen gebracht (am schwierigsten war die Installation des Modems, obwohl der Source fuer einen Treiber dabei war; aber die Doku zur Installation war beschissen). Ja, es war deutlich mehr Arbeit als das Installieren unter Win98. Aber: ich hatte nie das Gefuehl, dem System mehr oder weniger ausgeliefert zu sein. Bei meinem vorherigen Rechner konnte ich Win95 so alle halbe Jahre neuinstallieren, weil es immer instabiler wurde. Das war nervig, zeitaufwendig und hat die Probleme nie dauerhaft beseitigt. Mag sein, dass das Neuinstallieren fuer den Anfaenger einfach ist; mir ging es so auf den Keks, dass ich allein daraus die Motivation fuer Linux hatte - von diversen Abstuerzen mal ganz abgesehen.
Firmen, die proprietäre Software schreiben, müssen Usability-Tests mit »Anfängern« durchführen, um ein Software, die einigermaßen angemessen für diese Benutzergruppe ist, »herzustellen«. Freie Softwareprojekte haben zwar den Vorteil, dass sie sehr viele Entwickler »zur Disposition« haben, zumindest im Vergleich zu proprietärer Software, aber sie verfügen nicht über andere Resourcen, über die Hersteller proprietärer Software verfügen.
Ich habe bei diesen Usability-Argumenten ein grundsaetzliches Problem: Usability ist zu einem guten Teil im Aufbau des GUI zu finden: Sachen, die zusammengehoeren, stehen zusammen; Oft benutzte sind schneller erreichbar als selten benutzte, ... .
Die Forschung in diesem Bereich ist sicherlich ziemlich aufwendig und damit fuer freie Entwickler nicht finanzierbar. Aber:
Der typische Aufbau der "Auswahlleiste" (keine Ahnung, wie das heisst)(Datei, Bearbeiten, Ansicht, ...) ist doch seit Win3.x gleich. Das duerfte zusammen mit dem Kontextmenue der am haeufigsten gebrauchte Teil der GUI eines Programmes (z.B. Word) sein. Und in Win3.x war Usability wohl kaum ein Argument. Wenn also die grundsaetzlichen Sachen sich nicht veraendert haben, gibt es eigentlich nur 2 Moeglichkeiten:
1. Der Aufbau war von Anfang an fast optimal -> das glaube ich nicht.
2. Gewohnheit ist ein wesentlicher Faktor von Usability.
Ein typisches Beispiel ist fuer mich Word (bis Version 97, danach kenne ich es nicht mehr): das Formatieren einer Seite findet sich unter "Datei", nicht unter dem Punkt "Format". Das ist fuer mich weder logisch noch intuitiv, trotzdem war es dort untergebracht. Warum? Weil es schon immer so war.
Und zum Thema "Linux auf dem Desktop":
Es gibt zwei Sorten von Desktop-Usern:
Die erste benutzt den Rechner in der Firma (z. B. Sekretaer/in, Buchhalter/in, ...), loggt sich dort ein, startet die vom Systemadministrator installierte Software, beendet die irgendwann und loggt sich wieder aus. Hardwarekenntnisse sind praktisch unwichtig (Kenntnisse von Maus und Tastatur setze ich voraus). Im Normalfall hat er/sie keinerlei Installationsrechte, Diskettenlaufwerke sind mechanisch verriegelt und Speichern geht auch nur auf bestimmen Laufwerken (die dann nachts zentral gesichert werden), ... .
Dieser Sorte von Nutzern ist das zugrundeliegende System egal, solange die Software da ist, mit der sie arbeiten muessen.
Die zweite Sorte hat ihren Rechner zu Hause, muss gekaufte Hardware selbst installieren, ebenso die gekaufte[1] Software, sie ist also ihr eigener Admin.
Die beiden Sorten ueberschneiden sich haeufig, aber das ist sekundaer, denn:
Fuer eine Firma, die Software entwickelt, ist meiner Meinung nach der erste Benutzer viel wichtiger. Dessen Firma wird naemlich die Software kaufen, evtl. noch mit Supportvertraegen. Und mit Firmenkunden macht man wohl auch deutlich mehr Gewinn.
Das Programm selbst muss also stabil und zuverlaessig laufen. Ob der Admin 5 min oder eine Stunde braucht, um es zu installieren, ist bei einer Laufzeit von vielleicht 3 Jahren wohl egal.
Zum Thema »Konzept« möchte ich mal ein Beispiel machen, vielleicht wird es dann klarer: Unter Windows steckt man eine neue Hardware an (z.B. USB-Scanner) und diese wird sofort konfiguriert und es wird nach den Treibern gefragt, ohne zutun des Anwenders.
Dein Beispiel ist nicht gut gewaehlt; mach das Ganze mal unter NT :). Das mag jetzt fuer den Heimnutzer egal sein, eine Firma wechselt nicht gerne mal so eben das System fuer die ganze Belegschaft, nur weil bestimmte Hardware nicht mehr vom Hersteller des OS unterstuetzt wird. Also auch hier wieder: zu Hause ist das ein Vorteil, im kommerziellen Bereich sollte es egal sein (so der Admin weiss, was er/sie tut).
Ich gebe Dir recht, wenn Du sagst, dass Linux nichts fuer den gelegentlichen Benutzer zu Hause ist, der ein bisschen Surfen will, den Rechner als Ersatzschreibmaschine benutzt und vielleicht noch ein paar mp3s hoert. Aber warum sollte dieser Nutzer sich auch Linux installieren? Die Stabilitaet des Systems braucht er nicht, die ziemlich grosse Auswahl an Software fuer alles moegliche auch nicht. Fuer diesen Benutzer ist Win ein gutes System (Mac waere vielleicht noch besser).
Wenn man aber anfaengt, ein bisschen zu entwickeln, evtl. LaTeX braucht oder ein bisschen mit Grafik rumspielen will, dann ist Windows einfach erst mal am Ende. Klar, kann man sich ueberwiegend alles runterladen, aber das kostet dann auch wieder. Da schieb ich doch lieber eine CD meiner Distri rein und installiere. Und wenn ich mir allein die Kosten fuer ein komplettes Office ansehe, dann kann ich meine Distri fuer die naechsten 20-30 Jahre immer wieder kaufen.
Tja, und damit habe ich traurigerweise dargelegt, dass freie Software nichts für den DAU ist. Steinigt mich! :-(
Warum? Das ist Realitaet und wird es auch immer bleiben. Hat auch nichts mit Software zu tun. Wer was neues/anderes will und nicht bereit ist zu lernen/lesen, der wird es eben nicht hinkriegen.
[1] Wobei ja auf heimischen Rechnern nur Raubkopien laufen, jedenfalls nach Ueberzeugung so mancher Softwarekonzerne :)
Gruss
Thomas